7.3.2023

Rekrutierung morgen: alles KI oder was...?

Die Welt wird digital - der Mensch bleibt analog!

Portrait einer Frau mit einer natürlichen und einer digitalisierten Gesichtshälfte
Sind unsere Bewerbenden vollständig digitalisierbar?

Sind Algorithmen objektiver und vorurteilsfreier als Menschen oder braucht es in jedem Fall die individuelle Beurteilung durch eine Expertin? Rekrutieren wir besser mit herkömmlichen Methoden (Empathie, etc.) als mit KI oder ist eine Kombination der beiden Elemente erfolgreicher?

Wir lesen immer mehr über den Fortschritt, vor allem aber über Vorteil und Nutzebn der Digitalisierung. Gleichzeitig wächst aber auch eine gewisse Angst mit, dass irgendwann alles Menschliche mit binärer Zahlenlogik erfasst werden kann. Gemäss Transhumanisten wie Ray Kurzweil können wir bereits in 20 bis 30 Jahren unser Gehirn einscannen, auf einen Computer laden und als Software weiterleben lassen.

Seine Prognosen gehen davon aus, dass alle Aspekte menschlichen Handelns, Denkens und Erlebens als Informationsprozesse modellierbar sind und digital simuliert werden können. Was wie ein schlechter Scherz klingt, wird beklemmend, wenn man bedenkt, dass Kurzweil kein dahergelaufener Spinner ist, sondern Director of Engineering bei Google.

Wir haben uns angewöhnt, Dinge entweder als analog oder als digital zu bezeichnen. Das tägliche Leben zeigt jedoch, dass die beiden Sphären zusammengehören: das Digitale gewinnt erst an Bedeutung, wenn wir es in die analoge Welt zurückholen, denn nur wir Menschen verleihen Dingen ihre Bedeutung: Zwischenmenschliche Gesten wie ein freundlicher Blick, ein warmer Händedruck oder eine persönliche Berührung können nicht durch Wischbewegungen auf einem Screen oder Blicke in Computer-Kameras ersetzt werden, weil wir in der Begegnung von Mensch zu Mensch auf verschiedenen Ebenen berührt werden.

Wurde nicht mit der Einführung der CD der Niedergang der Schallplatte prognostiziert? Vinyl war nie wirklich tot und der Anteil an Musik auf LP's nimmt wieder stetig zu. Weshalb? Immer mehr Menschen wollen anscheinend wieder «echtes» Musik-Erlebnis (mit Nebengeräuschen) anstelle von klinisch sauberer und deshalb als steril empfundener Wiedergabe von Klängen geniessen.

Der Unterschied er zwei Varianten ist sehr subtil und ist rational kaum erklärbar, weil wir den Unterschied auf verschiedenen Ebenen fühlen oder erleben. Dies alles ist «fernab vom Verstand» und mit Logik nicht erfassbar.

Einen Weg finden auf einer Strassenkarte fordert uns auf verschiedene Weise heraus: Mit dem Finger auf der Karte dem Weg nachfahren und dabei gleichzeitig versuchen, sich den Weg im Kopf vorzustellen ist ein vielfältiger Prozess, der dabei im Gehirn Synapsen bildet. Der gleiche Vorgang auf Google Maps, wo wir nur die Adresse eintippen und den Rest einer Software überlassen können, beansprucht viel weniger Ressourcen unseres ganzen Systems und die Synapsen werden nicht verstärkt ...!

Es ist klar, dass neue Medien unsere sozialen Beziehungen beeinflussen. Bis zu welchem Grad sie dies tun, wird von jedem von uns individuell entschieden. Mein Smartphone ist ein gutes Hilfsmittel in meinem täglichen Leben. Wann und wie ich es einsetze, und welche Bedeutung und Sinn ich daraus entstehen lasse, kann ich selbst bestimmen: Einen Menschen auf der Strasse nach dem Weg fragen und mich unterwegs immer wieder orientieren, um zum Ziel zu gelangen, ist eine andere Qualität als die Adresse eingeben und der Stimme der Software folgen bis zum Ziel.

Der Sinn einer Sache oder die Bedeutung einer Angelegenheit sind also nicht einfach gegeben, sondern entstehen aus einer Interaktion mit oder durch Menschen.

RobotRecruiting: schöne neue Welt?

Stimmerkennung:

Es ist heute schon möglich, Informationen über die Persönlichkeit, das Verhalten und sonstige Neigungen aus der Stimme zu eruieren. Aber reicht es aus, die Bewerbenden zehn Minuten mit einem Computer sprechen zu lassen, um danach eine detaillierte Analyse über deren Persönlichkeit vom System geliefert zu bekommen? Wird eine Stimmanalyse, welche aus Lautstärke und Tonhöhe, aus Passagen mit fester oder zittriger Stimme Emotionen herauslesen kann, einem Menschen gerecht?

Wir wissen alle: der Mensch ist ein komplexes Wesen. Ist diese Person nun grundsätzlich immer so wie die Analyse sagt, oder war das eine Momentaufnahme? Worin besteht der Nutzen einer solchen Information und welche Entscheidungen werden dadurch gefällt?

Und das Wichtigste zum Schluss: aufgrund welcher Datensammlung hat der Algorithmus sein Urteil gefällt?

Ein Gespräch zwischen zwei Menschen ermöglicht meines Erachtens eine subtilere und umfassendere Beurteilung eines Menschen: Einem Schnellsprecher wird z.B. aufgrund seiner Sprachgeschwindigkeit von der Stimmerkennung ein «wenig unterstützender» Kommunikationsstil attestiert. In einem «Live-Gespräch» wird dies höchstwahrscheinlich durch Gestik, Mimik, etc. kompensiert oder erklärt, oder der Gesprächspartner kann rückfragen.

ein digitalisierter Schriftzug des Wortes «Voice»
digitalisierte versus «Live» gesprochene Stimme

Intelligente Gesprächsvorbereitung und Rekrutierung per Video:

Brauche ich KI, um die gewünschten Kompetenzen für eine bestimmte Stelle mit ein paar Mausklicks aus zehntausenden Interviews aus einem Datenpool zu ermitteln und mir so die passenden Interviewfragen zu liefern? Woraus besteht dieser Datenpool und passt er auf diese individuelle Stelle, auf mein Unternehmen und meinen Markt?

Künstliche Intelligenz stellt sicher, dass jedes Interview professionell vorbereitet ist. Bewerbende beantworten vordefinierte Fragen per Video und die Videoantworten können schnell und bequem in einem Bewertungssystem beurteilt werden.

Können dadurch passende Kandidaten schneller und valider identifiziert werden? Ein Gespräch zwischen zwei Menschen ermöglicht eine umfassendere Beurteilung, weil im Dialog Zwischentöne auffallen, die zu Folgefragen führen und zusätzliche Erkenntnisse ermöglichen können.

Gesicht eines Mannes  mit digitalisierten «Persönlichkeitsmerkmalen» im Hintergrund
KI «erkennt» den Menschen anhand eines Algorithmus

Keyword-Match:

Intelligente Matching-Technologien sollen die Rekrutierung effizienter gestalten und HR in der Vorselektion unterstützen – sagt uns die Werbung dieser Produkte ...

Bedingung dafür wäre eine klare Definition dieser Schlüsselworte. Was geschieht mit den CV's, welche «eigentlich» genau passen würden, aber die wesentlichen Key-Words nicht «richtig» abgebildet haben? Pech gehabt, dumm gelaufen oder selber Schuld für alle, die nicht «à jour» sind mit den heutigen Selektions-und Rekrutierungsmethoden? Und wie steht es um CV's der «schlauen» Bewerbenden, welche diese Schlüsselwörter bewusst in ihre Lebensläufe integriert haben; ist die Intelligenz der Systeme schon so gut, dass dies bemerkt wird, und die Bewerbungen ausgeschlossen werden?

In einem Artikel über Algorithmen in der Strafjustiz (Segen oder Albtraum?) im digitalen Magazin «Republik» (www.republik.ch) zeichnete  Strafrechtsprofessorin Nadja Capus die Konsequenzen eines Einsatzes von KI in diesem Bereich auf, und ich möchte hier auf Parallelen in der Rekrutierung eingehen:

Erfolgreich arbeitet ein Algorithmus dann, wenn er eine grosse Anzahl Daten bei einer beschränkten Anzahl von Variablen zur Verfügung hat. In der Strafjustiz – wie auch in der Rekrutierung neuer Mitarbeitenden – stellt sichein Problem: Es geht nie um Menschenmassen, sondern immer um eine einzelne Person, der eine unendliche Anzahl möglicher Verhaltensweisen offensteht. Kommt hinzu, dass die verfügbaren Daten in aller Regel rar sind, und das ist ja eines der zentralen Probleme.

Wozu dient also der Algorithmus? Er soll dazu beitragen, bei Entscheidungen Unsicherheiten zu eliminieren. Letztlich geht es darum, menschliche Verantwortung an die Maschine zu delegieren – oder zumindest mit ihr zu teilen. Das ist nur möglich, wenn diese Entscheidungen um den menschlichen Faktor reduziert werden. Es scheint also die Meinung vorzuherrschen, dass es der menschliche Faktor ist, der die Strafjustiz so kompliziert und kostspielig macht. Kann dies auch für die Rekrutierung angenommen werden? HR steht ja oft in der Kritik, mehr Kosten wie Nutzen zu generieren.

Man will in möglichst komplexitätsreduzierter Form neue, passende Mitarbeitende (oder in der Justiz eben potenzielle Täter) erfassen. Schnell und billig soll das gehen. Der Algorithmus nimmt Arbeit ab, es braucht weniger Sachbearbeitung. Er spart Zeit und Geld. Er arbeitet persönlich unbelastet, stetig und zuverlässig auf gleichem Niveau wie ein Mähdrescher – unabhängig von Arbeitsbelastung, Tagesform und anderen unkontrollierbaren Schwankungen.

Denn es geht auch ums Geldsparen – bei gleichzeitigem Ausbau des Systemzugriffs. In globalen und internationalen Firmen geht aus meiner Erfahrung der Trend im Bereich «HR» schon länger weg vom «H» (Human) in Richtung «R» (Ressourcen). Die Auslagerung der Rekrutierung an die Linie ist eine der Auswirkungen dieses Trends. Da die Rekrutierung nicht das Tagesgeschäft, und deshalb oft nicht eine Kernkompetenz der Linie ist, stellt man ihr «intelligente» Tools zu Verfügung, damit trotzdem die «richtigen» Mitarbeitenden eingestellt werden können.

Wie beeinflussen nun Algorithmen die Tätigkeit der Anwender? Denn vorderhand handeln ja immer noch Menschen – auch dort, wo algorithmenbasierte Programme angewendet werden. Es gibt viele Untersuchungen – in der Medizin, in der Aviatik, in der Zugfahrt – welche aufzeigen, wie Arbeitsinstrumente mit integrierten automatisierten Prozessen die Tätigkeit der Berufsleute beeinflussen.

Zwei Wandlungen sind festgestellt worden: der Tunnelblick und Kompetenzverluste.

Gesicht eines Mannes der mit beiden Händen Scheuklappen bildet.
Der Tunnelblick schränkt die Sicht ein

Zuerst zum Tunnelblick: Alles, was die algorithmenbasierte Software bearbeiten soll, muss programmierbar sein. Die Maschine kann nur auswerten, was sie lesen kann. Am besten kann sie Zahlen verarbeiten, ebenso gut ein Ja oder Nein. Am Ende wird die Summe dieser standardisierten Bewertung einer vordefinierten Kategorie zugeordnet. Verarbeitet werden die harten Daten, die weichen bleiben aussen vor. Mit persönlichen Wertungen oder Vermutungen, mit Emotionen und Erfahrungen kann die Maschine nichts anfangen – ausser sie werden in Ziffern transformiert.

Verloren geht in diesem Raster die individuelle Kennzeichnung. Es interessiert den Algorithmus nicht, ob ein arbeitsloser Kandidat engagiert auf Stellensuche ist oder ob er sich bewirbt, weil er halt muss. Auch will er nicht wissen, ob jemand frisch verliebt oder unglücklich verheiratet ist. Daten dieser Art kann der Algorithmus nicht erfassen. Aber das heisst nicht, dass sie irrelevant sind.

Wenn sich der Algorithmus nur auf die harten Daten stützt, besteht die Gefahr, dass auch die Menschen, die mit ihm arbeiten, diesem Tunnelblick verfallen. Wenn Menschen sich an diese eingeengte Wahrnehmung gewöhnen, werden wichtige Informationen vernachlässigt oder gehen verloren. Das wäre schwerwiegend, weil man in der Rekrutierung auch Entscheidungen fällen muss die mit unbekannten Variablen behaftet sind. Erfahrene HR-Mitarbeitende stützens ich dabei zur Hauptsache auf ihre Ausbildung, ihre Erfahrung und Intuition. Eine ganz besondere und wichtige Fähigkeit des Menschen ist die Kompetenz, eine Information kontextabhängig zu werten, also differenzieren zu können. Dies ist gleichzeitig das grösste Defizit eines Algorithmus.

Intuition und Empathie lassen sich nicht programmieren!

Bild von Gehrin mit linker Hälfte digital und rechter Hälfte farbig

Keine Maschine und sei sie noch so intelligent, wird je in der Lage sein, einen Menschen mit all seinen persönlichen Eigenheiten ganzheitlich wahrzunehmen – selbst dann nicht, wenn sie all seine digitalen Spuren kennt. Unser Bauchgefühl und unser Gespür für Zwischentöne sind nicht imitierbar und bleiben einzigartig individuell. Die Befürworter der Maschine widersprechen: Die Programme sind nur ein Element! Wir fächern die Informationen wieder auf! Aber wird die Zeit dafür vorhanden sein, wenn sich die zu bearbeitenden Akten auf dem Schreibtisch stapeln?

Wenn dieser Trend zur «Automatisierung» in der Rekrutierung weitergeht, dann besteht die grosse Möglichkeit, dass künftige Generationen von Rekrutierungsverantwortlichen sich an den Gedanken gewöhnen werden, dass es sowieso die Maschine ist, die über eine Einstellung von neuen Mitarbeitenden entscheidet, und dass sie sich deshalb die gedankliche Anstrengung von vornherein sparen können. Die Folgen wären eine übermässige Abhängigkeit von der Technologie, ein Schwund an Entscheidungsfähigkeit – verloren gehen würden die Fähigkeit zu beobachten, zu evaluieren, Schlussfolgerungen zu ziehen, abzuwägen, um schliesslich eine stimmige Entscheidung zu treffen. Ähnlich wie Ende des letzten Jahrhunderts, als sich ein Trend abzeichnete, Entscheidungen bei Rekrutierungen an ein graphologisches Gutachten zu delegieren.

Ich möchte hier eine Lanze brechen für «Rekrutierungen mit Sinn», d.h. für Auswahlverfahren mit gesundem Menschenverstand, denn wir wollen Menschen einstellen, nicht Maschinen. Und dazu braucht es Empathie und Intuition, sowie den Blick und das Ohr für die feinen aber wichtigen Reaktionen und Zwischentöne in Gesprächen, denn meistens tauchen die wesentlichen Aussagen im dritten Nebensatz auf. Und die gilt es zu erkennen. Die Frage ist: wie werden wir darin kompetent und meisterhaft? Genau wie bei einem Algorithmus: durch ständiges Wiederholen und laufendes Üben.

Es ist nicht von der Hand zu weisen: Business wird zunehmend digital. Wir können die neuen Technologien nutzen, um dadurch unser Leben und Arbeiten zu vereinfachen. Eine zu grosse Zurückhaltung gegenüber neuen digitalen Tools sowie das Verharren in alten Mustern sind wenig erfolgversprechend. Vielmehr müssen neue Technologien und Kanäle zur Unterstützung beigezogen werden.

Auch wenn die Digitalisierung eine Herausforderung sein kann, ist sie dennoch als Chance zu begreifen. Wie dies genau geschieht, entscheiden wir als Menschen. Nur wir können umfassende Bedeutungszusammenhänge kreieren und dem Leben Sinn geben.

Deshalb bleiben wir auch analog. Und ich denke, es werden genau diejenigen am erfolgreichsten sein, die in einer digitalisierten Welt das Menschliche als Differenzierungsfaktor und als Stärke für sich zu nutzen wissen. Zum Beispiel in einer erfolgreichen Rekrutierung!

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Ja, das will ich!