7.3.2023

Intuition in der Rekrutierung?

Vorteile und Nachteile von Intuition im Recruiting

Die Verwendung von Intuition im Recruiting kann einige Vorteile haben, wie zum Beispiel:

  1. Intuition ermöglicht es, schnell ein Gefühl dafür zu bekommen, ob ein Kandidat oder eine Kandidatin für die Position geeignet ist, was die Entscheidungsfindung beschleunigen kann.
  2. Intuition basiert auf Erfahrungen, die man in der Vergangenheit gesammelt hat. Dies kann dazu beitragen, dass man einen Menschen besser einschätzen kann.
  3. Intuition kann eine Ergänzung zu objektiven Faktoren wie Qualifikationen und Erfahrungen sein und kann helfen, ein ganzheitlicheres Bild von einem Menschen zu   erhalten.

Es ist jedoch wichtig, sich darüber im Klaren zu sein, dass Intuition nicht die einzige Entscheidungsgrundlage sein sollte und dass objektive Faktoren und Bewertungen ebenso wichtig sind.

... und welches sind die Nachteile von Intuition im Recruiting?

  1. Intuition kann von unbewussten Vorurteilen beeinflusst werden, die zu ungerechten Entscheidungen führen können.
  2. Intuition basiert auf subjektiven Eindrücken und Gefühlen und kann daher mangelnde Objektivität und Fehler in der Entscheidungsfindung verursachen.
  3. Intuition basiert auf Gefühlen und Eindrücken und nicht auf Beweisen. Dies kann dazu führen, dass Entscheidungen auf unzureichenden Informationen basieren.
  4. Intuition basiert oft auf subjektiven Eindrücken, die schwer zu erklären oder zu belegen sind, was die Transparenz und Nachvollziehbarkeit der Entscheidungen beeinträchtigen kann.

Es ist wichtig, Intuition im Recruiting mit objektiven Faktoren und Bewertungen zu kombinieren und sich seiner eigenen unbewussten Vorurteile bewusst zu sein, um die Nachteile zu minimieren.

So viel zur Theorie ... und wie sieht es in der Praxis aus?

Meine Erfahrung mit Intuition in der Rekrutierung:

Intuition habe ich vor allem in den Job-Interviews eingesetzt. Zuerst sehr unbewusst: Als ich am Anfang meiner Karriere als HR-Business-Partner bei Hewlett Packard die ersten Interviews führte, hörte ich schnell von den Vorgesetzten, dass mein Rekrutierungs-Stil «anders» sei als der meiner Vorgängerin. Hmmmm - was heisst anders? Ich fragte nach und es stellte sich schnell heraus, dass ich in fast jedem Interview Fragen stellte, die sonst nicht gestellt würden. Dies machte mich zuerst unsicher und ich hinterfragte meine Rekrutierungs-Kompetenz. Damals konnte man nirgends Interview «lernen».

Als ich mich mehr damit auseinandersetzte, merkte ich dass ich oft Fragen stellte, die sich «aus dem Gespräch» ergeben hatten. Ein Wort oder ein Satz meiner Gesprächspartner löste bei mir eine Frage auf, die ich nicht vorbereitet hatte. Und diese Fragen stellte ich dann intuitiv und daraus entstanden jeweils spannende Diskussionen. Ich merkte, dass ich diese «unkontrollierten» Fragen stellte, weil ich erfahren wollte, welcher MENSCH denn am Gespräch teilnimmt. Und ich machte offensichtlich einen Unterschied zwischen «Kandidaten» und »Menschen». Heute würde man dem vermutlich das Label «ganzheitliche Betrachtung» anhängen ...

Einer meiner jeweils ersten Sätze in den Interviews war: "Sie müssen nicht jede Frage von mir beantworten!" – und dies meinte ich wirklich so, wie ich es sagte! Für mich ist «keine» Antwort eben auch eine Antwort ...

Beispiel 1:

Ich erinnere mich sehr gut an ein Interview, das vor gut zwanzig Jahren stattgefunden hat. Wir hatten bei HP eine Stelle als «Productmanager Laserjet» ausgeschrieben und führten ein Interview mit einer jungen Dame. Der Abteilungsleiter war eher cholerisch und führte das Gespräch sehr direkt und eher «dynamisch» direkt mit der Kandidatin. Ich sass daneben und war Zuschauer. Die beiden haben sich die gegenseitige Kompetenz nur so um die Ohren gehauen und die Dame hat mit ihrer Kompetenz und Persönlichkeit gepunktet. Als der Manager sein Pulver verschossen hatte meinte er zu mir, dass ich jetzt meine Fragen auch noch stellen soll. Und nein, so hatte ich mir das Interview nicht vorgestellt, aber das spielte keine Rolle, denn als Zuschauer konnte ich ja auch einiges wahrnehmen.

Ich stellte unter anderem die Frage: «Wo sehen Sie sich in drei, vier Jahren?» und damit überraschte ich mich selbst, denn ich stelle diese Frage NIE in meinen Interviews! Die Kandidatin schaute mich an und sagte ganz ruhig: «Diese Frage beantworte ich Ihnen nicht». Ich fand das sehr stark und der Abteilungsleiter blaffte mich an, ich solle nicht so unnötige Fragen stellen! Das Interview nahm seinen Lauf.

Wir beendeten das Gespräch und als ich sie zum Schluss fragte, ob es für sie noch offene Punkte gäbe, meinte sie: «ich würde Ihnen gerne sagen, weshalb ich die Frage nach der Zukunft vorhin nicht beantwortet habe.» Für mich war das nicht nötig, doch sie insistierte und erklärte uns, dass sie schon einmal ziemtlich krank gewesen sei, und nicht gewusst habe, ob sie die Krankheit überleben oder sterben würde. WOW!!! So was hatte ich nicht erwartet – ich hatte ja gar nichts erwartet, denn ich hätte «keine» Antwort wirklich akzeptiert.

Später – nachdem wir die Frau eingestellt hatten – erklärte sie mir, dass sie an unserem Gespräch mit einer Perücke teilgenommen habe, da sie durch die Chemotherapie ihre Haare verloren habe und diese noch nicht genug nachgewachsen wären! Die Frau hatte Krebs und hatte daraus gelernt, dass die Zukunft weniger wichtig sei als die Gegenwart! Durch diese Klarheit konnte sie mir auch meine Frage mit einer natürlichen Selbstverständlichkeit beantworten - und hatte damit gross gepunktet:

Ich stellte diese Frage nach der Zukunft intuitiv in diesem Interview – normalerweise nie! Es war nötig, dass ich sie stellte, denn damit hatte ich genau diese Situation kreiert und ihr die Chance gegeben, so zu antworten. Wie stark ist das denn?!?

Beispiel 2:

Drama in drei Akten!

Vorgeschichte:

Ich hatte ein Interim-Engagement als HR-Business-Partner in einer pharmazeutischen Fabrik irgendwo in der Schweiz. Stell Dir eine Fabrik vor mit ca. 1000 Mitarbeitenden - aufgeteilt in drei Departments, unterteilt in verschiedene Abteilungen. Rekrutieren war dort Aufgabe eines internen «Recruitment-Centers». Wir HR-Businesspartner waren für die Manager und Mitarbeitenden erst nach der Einstellung zuständig.

Ich hatte meine wöchentlichen «1 to 1-Meetings» mit den Departmentsleitungen. In einem der Departments wurde eine Stelle als Abteilungsleiter frei. Die Stelle wurde vom Recruitment Center ausgeschrieben und es gab eine «Shortlist» von valablen Kandidaten. Im Lauf dieser Rekrutierung tauchte die Möglichkeit auf, einen ausländischen «Expat» zu lokalisieren und auf die frei gewordene Stelle zu setzen. Dieser Mitarbeiter war während zwei Jahren in seinem Assignment in dieser Fabrik tätig gewesen und es stellte sich die Frage, ob er zurück in sein Ursprungsland zurück wollte oder ob er die Stelle in der Schweiz als «local employee» übernehmen wollte.

Expats zu lokalisieren ist eine schwierige Angelegenheit, denn Mitarbeitende verlieren mit einem Schweizer Vertrag einige Benefits, welche ihnen als Expatriates zustehen. Die Diskussion und Verhandlungen über diese Lokallisierung war meine Aufgabe und sie zog sich über längere Zeit hin, bis klar war, dass er lieber zurück ins Ursprungsland ging als die Stelle in der Schweiz anzutreten.

1. Akt:

An meinem «1 to 1» nach der Expats-Absage nahm auch die Recruiting-Verantwortliche teil und wir diskutierten zu dritt die Strategie für das weitere Vorgehen. Alle Kandidaten auf der Shortlist waren schon informiert worden, dass wir an einer internen Lösung arbeiten würden. Wir mussten also «zurückrudern» und hoffen, dass die Kandidaten noch frei waren. Wir gingen die Liste durch und einigten uns auf den Kandidaten zuoberst auf der Liste. Recruiting würde ihn nochmals kontaktieren und zu einem Gespräch einladen und ich sollte – zusammen mit Recruiting – das Job-Interview führen. Meine erste spontane (und eben «intuitive») Reaktion war: ich möchte diesen Menschen fragen, wie es sich anfühlt als «2. Wahl"» ... Die Rekrutierungs-Verantwortliche fiel fast vom Stuhl bei dieser Bemerkung: «So was darfst Du nicht fragen – spinnst Du eigentlich?» Ich beruhgte sie und versprach ihr, dass ich erst am Interview entscheiden würde, ob ich die Frage stellen würde oder nicht. Abhängig von der Stimmung und der Person. So weit - so gut!

2. Akt:

Der Kandidat war noch frei und das Gespräch fand an einem Freitag gegen Abend statt. Er schaute sich zuerst die Abteilung an und zum Schluss kam er bei uns vorbei zum Gespräch. Und siehe da: Meine Intuition sagte mir, dass diese Frage gestellt werden wollte! Meine langjährige Erfahrung hat mich gelernt, in solchen Momenten mein Gehirn auszuschalten und den Fragen ihren Raum zu geben. Also sagte ich nach der Begrüssung freundlich und mit einem Lächeln im Mundwinkel: «Und wie fühlt es sich an als zweite Wahl?» Er schaute mich belustigt an, lehnte sich in seinem Sessel zurück und sagte tiefenentspannt: «Zweite Wahl? Wie kommen Sie denn darauf? Ich sitze hier an einem Job-Interview und manchmal nimmt das Schicksal sonderbare Wege!»

Na also – geht doch! Nix passiert und das Gespräch verlief spannend. Wir stellen unsere Fragen – ich noch ein paar kritische, denn er sollte ja eine Abteilung leiten mit vier Teamleitern und etwa 30 Mitarbeitenden. Da liegt die Latte schon höher als bei einer Mitarbeiterstelle!

Wir beendeten das Gespräch und vereinbarten eine gegenseitige Rückmeldung nach dem Wochenende.

3. Akt:

«First thing monday morning» rief mich die Departmentsleiterin aufgeregt an und erklärte mir, dass sich der Kandidat soeben bei ihr lauthals über mich beschwert habe. Eine solche Frechheit in einem Job-Interview sei ihm noch nie begegnet! Einen solch aggressiven Interviewstil hätte er noch nie erlebt! Er habe unser Gespräch übers Wochenende mit einem ihm bekannten Headhunter besprochen und dieser habe ihm bestätigt, dass dies «unterste Schublade» sei und er das Gespräch schon nach meiner ersten Frage hätte beenden sollen!

Hmm - interessant: der (vermeintlich) tiefenentspannte Kandidat ist wegen meiner Frage anscheinend innerlich fast explodiert! Und meine kritischen Fragen hat er als «aggressiv» empfunden – auch das eine spannende Aussage!

Ich fragte die Departmentsleiterin, ob sie sich einen Abteilungsleiter wünsche, der nach aussen anders kommuniziere, als er innerlich eigentlich denkt? Denn das ist meines Erachtens doch genau das, was sich in diesem Interview gezeigt hatte: nach aussen eloquent und entspannt, aber innerlich nahe am Siedepunkt!

Ihr anfänglicher Unmut änderte sich nach kurzer Überlegung und der Kandidat war kein Kandidat mehr. Ich versprach ihr, mich beim Kandidaten zu melden, um die Situation in einem Gespräch zu klären und zu bereinigen. Jeder Kandidat ist ein möglicher Botschafter für (oder gegen) uns. Vor allem die Bewerbenden, die nicht erfolgreich waren im Gespräch gilt es, anständig zu verabschieden. Immer – denn es bewerben sich ja beide Seiten.

Der Kandidat wollte nicht nochmals vorbeikommen und so haben wir die Angelegenheit per Telefon geklärt. So weit - so gut. Es herrschte wieder Frieden im Land und unser schlechtes Image war vom Tisch.

Ich behaupte jetzt mal frech, dass meine intuitive Frage genau richtig war! Wir können davon ausgehen, dass wir in einem «normalen» Gespräch diese Diskrepanz eher nicht entdeckt hätten. Im Nachgang zu den Gesprächen hatte ich mich auch daran erinnert, dass der Kandidat auf meine kritischen Fragen nicht nur entspannt geantwortet hatte. Ich hatte ihn zu Punkten aus seinen Arbeitszeugnissen vergangener Arbeitgeber gefragt und er fühlte sich offensichtlich nicht 100%ig wohl dabei.

Hier kommt ein weiter Punkt, wie&wo ich meine Intuition auch noch einsetze: beim Lesen von Arbeitszeugnissen. Aus diesen Dokumenten springen mir sehr oft Formulierungen ins Auge, die ich im Gespräch dann aufnehme. Und es gibt dabei kein Schema, das ich verfolge. Ich lese die Zeugnisse durch und bleibe – intuitiv – irgendwo hängen. Und diesen Satz oder diese Bemerkung wird dann Teil meines Gespräches. Beispiel: weshalb hat ihr ehemaliger Arbeitgeber diesen Satz in ihr Zeugnis geschrieben? Und es kann ein völlig banaler Satz oder eine völlig alltägliche Aussage sein. Hier gilt auch: die Intuition hat immer recht!

Zusammenfassende Schlussfolgerung oder schlussfolgernde Zusammenfassung.

Wie ich in einem anderen Blog-Beitrag geschrieben habe, ist Deine Intuition (a.k.a. Dein Bauch oder Bauchgefühl) viel schlauer als Dein Kopf. Weshalb? Weil im Gehirn 50 Bits pro Sekunde verarbeitet werden – in der gleichen Zeit im Bauch jedoch 12'000 Bits! Und Deine gemachten Erfahrungen werden mit der grösseren Verarbeitungsmenge eher und schneller gefunden; ist doch schon rein rechnerisch klar, oder?

Die beiden Situationen, die ich beschrieben habe, wären nicht gewesen, wenn ich nicht auf meine Intuition gehört hätte. Wir hätten nicht die gleichen Dinge erfahren, nicht die gleichen Situationen erlebt und daraus nicht die gleichen Schlüsse ziehen können. Und dadurch habe ich ein Ziel erreicht, das ich in allen Interviews erreichen möchte: ich will erfahren, welcher Mensch sitzt mir gegenüber? Und ich möchte den GANZEN MENSCHEN erfassen, nicht nur den Mensch, der sich für eine Stelle interessiert.

Dehalb empfehle ich Dir, nein ich ermuntere Dich, oder noch besser ICH FORDERE DICH AUF unbedingt damit zu beginnen! Vielleicht brauchst Du ein wenig Übung, bis Du Deine innere Stimme erkennst und hörst. Und vielleicht musst Du auch nicht gleich mit einem krassen Beispiel wie ich beginnen. Wobei – es spielt keine Rolle, in welcher Situation Du beginnst, Hauptsache Du beginnst!

Und dann wird folgendes geschehen: DU ZEIGST DICH – DU WIRST ANGREIFBAR – DU WIRST VERLETZLICH ...

... AAAABER DAS WICHTISTE IST: DU ZEIGST STÄRKE, KRAFT UND MUT !!!

Und dann höre ich immer: «Ja, aber ... wenn ich dadurch einen Fehler mache?» Meine Antwort darauf ist ganz einfach: Es gibt keine Fehler! Nein, wirklich nicht! Es gibt vielleicht Resultate, die nicht den Vorstellungen entsprechen. Ist das nun ein Fehler oder einfach ein «anderes» Resultat? Ich mach' mir die Sache nicht zu einfach, sondern ich habe eine andere Haltung zu Resultaten und Ergebnissen. Und es ist nicht so, dass ich dadurch keinen Fehler zugeben muss. Ich anerkenne, wenn eine Sache nicht so gelaufen ist, wie sie hätte können oder müssen und ich frage mich dann «was habe ich getan (oder nicht getan), damit dieses Resultat entstanden ist?»

Danach kann ich mir überlegen, was ich nächstes Mal ändern möchte – und ich kann sicher sein, dass das «nächste Mal» ein anderes sein wird als dieses Mal. Und über folgendes bin ich mir ziemlich sicher:

«Everything happens for a reason!»

Deshalb ist es gut, wenn Du Deine Intuition einsetzt, denn dadurch entstehen Situationen, die sonst nicht entstehen würden. Dafür lohnt es sich!

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Ja, das will ich!